© Stadt MelleWährend Bäumer in seiner Abhandlung „Eine schicksalhafte Beziehung im Jahre 1941/42 und die schlimmen Folgen“ das grauenvolle Ende einer Liebesbeziehung zwischen einer deutschen Magd und einem polnischen Zwangsarbeiter schildert, geht Grove in seinem Aufsatz auf die „Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlager im Kreis Melle“ ein. Zwei Beiträge, die am Freitagabend während der Präsentation des Sammelbandes in der Feierhalle der Grönenburg das dominierende Thema darstellten.
„Wieder einmal darf ich Sie – wie immer ganz herzlich und in alter Verbundenheit – zur Vorstellung eines Meller Jahrbuchs begrüßen. In Ihrer Gegenwart sehe ich ein Zeichen der guten Begleitung dieses Buches über viele Jahre hinweg, die eine kritische Lektüre einschließt, wie sie auch oft in die Bereitschaft münden konnte, als Autorin oder als Autor an einem der Bände mitzuwirken“, sagte Herausgeber Dr. Fritz-Gerd Mittelstädt an die rund 100 geladenen Gäste gerichtet. Das Meller Jahrbuch, so der Redner, habe sich eine dreifache Aufgabe gesetzt: Blicke in die Vergangenheit des Grönegaus und des Osnabrücker Landes, Bestandsaufnahmen gegenwärtiger Situationen, Strukturen und Wandlungen wie auch Wege in die Zukunft, soweit diese sich abzeichnen, sollen der Identifikation mit Melle, dem Kennenlernen dieser Stadt, der Auseinandersetzung mit unserem Gemeinwesen dienen. Dabei reichen die Themen von der Erdgeschichte über Flora und Fauna bis hin zu Gesellschaft und Wirtschaft, Kunst und Kultur, und sie decken Strukturen, Funktionen und Prozesse auf.
Im Folgenden ging Fritz-Gerd Mittelstädt in besonderer Weise auf die Beiträge von Herbert F. Bäumer und Thomas Grove ein: „Dr. Bäumer hat einen dieser Artikel in Form eines Interviews verfasst und uns damit quasi einen Stolperstein vor die Füße gelegt – in schriftlicher Form, bevor vielleicht in Zukunft ein echter Stolperstein vor Ort in Riemsloh in den Boden gelegt wird. Worum geht es in diesem Interview? In einem Gespräch mit einer noch unter uns lebenden Meller Bürgerin arbeitet er am Beispiel ihres Schicksals die braune Vergangenheit in Melle auf. Ich als 1948er könnte die Gnade der späten Geburt für mich in Anspruch nehmen. Doch damit würde ich meiner Aufgabe als Herausgeber des Meller Jahrbuchs nicht gerecht. Sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, darf keine Eingrenzung auf Heiteres und Unverfängliches bedeuten; die Geschichte unseres Raumes beinhaltet mehr als nur das, was wir im Sinne einer Bestandsaufnahme darstellen können, Geschichte geht uns an – zumal dann, wenn sie eigentlich immer noch nicht zur Geschichte geworden ist, sondern die Gegenwart prägt, in der Gegenwart noch nicht zur Ruhe gekommen ist – so wie die 91-Jährige, im Grönegau aufgewachsene und in Melle-Mitte wohnhafte Gesprächspartnerin von Herrn Bäumer. Nach 70 Jahren hat sie sich selber, ihrer Familie und dem Heimatforscher geöffnet und über die Schändungen und Entehrungen berichtet, die ihr Meller Nazis zugefügt haben, und zwar aus dem einzigen Grund, dass sie sich in Riemsloh in einen polnischen Zwangsarbeiter verliebte und mit ihm einen Sohn bekam. Einer glücklichen Kindheit in einfachsten Lebensumständen in Dielingdorf folgte nach dem Schulabschluss die Tätigkeit als Kleinmagd in Döhren mit harter Arbeit – alle 14 Tage ein freier Sonntagnachmittag – und Unterbringung in der kargen Gesindekammer. In diese Zeit fiel die Begegnung mit Josef, einem polnischen Kriegsgefangenen, der im Zwangsarbeiterlager in Döhren lebte. Beider Unrecht bestand darin, sich ineinander zu verlieben, was vom braunen Postboten verpfiffen wurde. Der Pole musste mit dem Leben büßen, indem zwei Nazi-Schergen aus dem Ostteil des Grönegaus sein Verbrechen auf mittelalterliche Weise sühnten: etwa 500 polnische Zwangsarbeiter wurden herbeigeschafft und mussten zusehen, wie Josef erhängt wurde. Wer nicht hinsehen wollte, bekam einen Schlag ins Genick. Seine Freundin kam zunächst ins Osnabrücker Gefängnis und später nach der Geburt ihres Sohnes für ein Jahr ins KZ Ravensbrück. Im Gespräch mit Dr. Bäumer erinnert sie sich: ,Auf unmenschliche Art wurde ich von meinem Kind getrennt. Die Fahrt nach Ravensbrück habe ich nur in Trance erlebt und konnte mir nicht vorstellen, was im kommenden Jahr auf mich zukommt‘. Weil braune Meller sie denunziert haben, wurde sie in Ravensbrück nur mit ihrer Lagerinsassinennummer angesprochen und ihre persönliche Identität wurde auf ein farbiges Dreieck auf der Anstaltskleidung reduziert, das sie einer Verbrechens- und Verbrecherkategorie zuordnete. An diese schlimmste Zeit persönlicher Entwürdigung, Entehrung und Verletzung, an diese Phase des Ausschlusses aus der heimatlichen Gesellschaft, an die Einordnung einer Liebesbeziehung als Verbrechen, an die brutale Art verblendeter Meller Bürger, den Vater ihres Kindes umzubringen – an all das hat sich diese Meller Mitbürgerin jetzt in ihrem hohen Alter erinnert. Vielleicht hat sie sich damit eine Möglichkeit geschaffen, doch noch die schwere Last ein wenig zu mindern, indem sie das Ausmaß der Grausamkeiten als Wissen weitergibt – auch an uns. Wenn dieses Gespräch im 31. Band des Meller Jahrbuchs abgedruckt ist, dann weil wir die Pflicht haben, nicht so zu tun, als wüssten wir von nichts. Inzwischen wissen wir, wie der Pole Josef umgebracht wurde, inzwischen wissen wir, wie seine Geliebte hat leiden müssen, inzwischen wissen wir, wie der hoch angesehene Meller Jurist Bodenheim von denen, zu denen er gehörte, fallengelassen wurde, nur weil er als Christ zuvor Jude war; er konnte in Melle im doppelten Sinne keine Ruhe mehr finden, weder als Lebender noch als Toter. Das alles wissen wir! Davon müssen wir – auch im Meller Jahrbuch – berichten.“
© Stadt Melle„Wir müssen auch in Erinnerung rufen“, so Fritz-Gerd Mittelstädt, „dass man 1944 in Melle darüber ungehalten war, ,dass jetzt schon Kinder von Ostarbeitern durch das Staatliche Gesundheitsamt betreut werden‘, wie Grove in seinem Beitrag über Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlager in Melle zur Zeit der Nazi-Herrschaft zitierend berichtet. Apartheid, über die wir uns in Deutschland verurteilend ereiferten, gab es nicht nur in Südafrika, und nicht nur in den USA gab es eine Trennung – in diesem Fall von Schwarzen und Weißen – auch in Melle herrschte eine Bewusstsein von Überlegenheit, von Geringschätzung und Verachtung, in einem Land, in dem Schiller seine Ode an die Freude verfasst hat, in der es heißt ,Alle Menschen werden Brüder‘.“
Thomas Grove belegt diese Tatsache in seinem Aufsatz mit einem Zitat aus einem Schreiben, das seinerzeit ein Vertreter des Gesundheitsamtes formulierte: „Einer Meldung zufolge sind die Frauen, die zum Staatlichen Gesundheitsamt in Melle müssen, oft empört darüber, dass sie mit ausländischen Arbeiterinnen, zumeist Ostarbeiterinnen, das Wartezimmer teilen müssen. Abwechselnd würden deutsche und ausländische Frauen von dem Arzt untersucht. Die deutschen Frauen könnten ein Gefühl des Ekels nicht überwinden bei der Vorstellung, dass der gleiche Arzt sie untersucht, der einen Augenblick vorher noch eine Ostarbeiterin untersucht hat, wenn sie auch als sicher annehmen, dass er sich inzwischen die Hände gewaschen hat“.
Auch das könne der Leser in Groves Beitrag erfahren, sagte Fritz-Gerd Mittelstädt weiter und fuhr fort: „Dass wir als Ort der heutigen Präsentation die Feierhalle in der Grönenburg gewählt haben, erscheint vor diesem Hintergrund als gerechtfertigt. Denn dieses Gebäude mit seinem romantisch verbrämten und heute durchaus als schön empfundenen Versammlungsraum wurde einst als Hermann-Göring-Heim errichtet und diente der Propaganda eben jener Ideologie, deren fürchterliche Umsetzung soeben dargestellt worden ist. Hier an diesem Ort wurden die prägende Kraft der ortsüblichen und landschaftsgebundenen und eigentlich unpolitischen Architektur und diese Halle als Appellflur für die nationalsozialistische Schulung genutzt.
Angesichts dieser braunen Vergangenheit, von der Melle nicht verschont blieb und der wir uns stellen müssen, können wir nur dankbar dafür sein, dass sich die Gesinnung gewandelt hat. Eine braune Nutzung des ehemaligen Meller Bahnhofsgebäudes konnte in jüngster Zeit verhindert werden. Heute kann eine türkische Mutter ihr Baby im Christlichen Klinikum zur Welt bringen und alle freuen sich über den neuen Erdenbürger; heute kann man in Melle Pizza, Döner und Suflaki essen und im Supermarkt Piroggen kaufen, Speisen, die unsere deutschen Gerichte ergänzen und uns schmecken; heute kann in der Petri-Kirche der Synagogalchor aus Leipzig singen, und wir sind beeindruckt von den Ausdrucksformen jüdischer Frömmigkeit; heute liegt der gute Ort, der jüdische Friedhof bei Buer nicht mehr außerhalb, nicht mehr im Sünderwald, sondern er ist integraler Bestandteil unserer gewachsenen Kulturlandschaft. Und – Gott sei Dank – öffnen heute die Meller ihre Grenzen, auch die im Kopf, wenn sie internationale Städte- und Schulpartnerschaften pflegen und den Besuch von Freunden aus England und Frankreich, aus Lettland sowie aus Russland, Weißrußland und der Türkei, aus den Niederlanden und den USA sowie den Austausch mit Partnern in Südafrika als Bereicherung empfinden.“
Im weiteren Verlauf der Präsentation, die von Willem Schulz vom Kulturzentrum „Wilde Rose“ eindrucksvoll musikalisch umrahmt wurde, formulierte Fritz-Gerd Mittelstädt einen persönlichen Wunsch: „Möge auch Band 31 erneut auf Interesse stoßen und einen Beitrag zur Festigung der Meller Identität leisten, nicht ohne die Bedeutung der lokalen Bindungen gering zu schätzen.“ Dass diese grundlegend seien, hebe die Vielfalt der Beiträge hervor, in denen Autorinnen und Autoren die Stadt Melle in ihrer Gesamtheit in den Blick nähmen, aber ihr Augenmerk auch auf die Stadtteile und auf kleine Biotope lenkten, so der Herausgeber, der abschließend allen Autorinnen und Autoren für ihre Mitarbeit dankten. Es sind dieses Dr. Herbetr F. Bäumer, Thorsten Dördelmann, Volker-Theo Eggeling, Annette Fangmeyer, Thomas Grove, Dr. Dirk Hohnsträter, Ulrike Koop, Hermann Kuipers, Christa Möller, Karsten Mosebach, Dr. Ulrich Piesch, Uwe Plaß, Cornelia Rutsch, Willem Schulz, Gerhard Stechmann, Volker Tiemeyer und Barbara Traichel-Kramer.
„Unser ,Grönegau‘ hat es in sich!“ Mit dieser Wortspielerei würdigte Bürgermeister Dr. André Berghegger die jüngste Ausgabe des Meller Jahrbuches als ein gehaltvolles Werk. In den Aufsätzen von Herbert F. Bäumer und Thomas Grove werde deutlich, dass es „auch in Melle in der Zeit der braunen Diktatur Menschen gab, die andere Mitmenschen gequält und großes Unrecht ausgeübt haben“. Das werde dem Leser bei der Lektüre beider Abhandlungen deutlich vor Augen geführt. Für den Bürgermeister stand fest: „Diese Zeit dürfen wir nicht ausblenden. Wir müssen darüber reden.“ Der heutigen Generation komme hierbei eine Schlüsselrolle zu. Denn: „Eine solche Zeit voller Verwirrungen und Leid darf sich nicht wiederholen."
Das Meller Jahrbuch „Der Grönegau“ ist ab sofort im Handel zum Preis von 16,90 Euro erhältlich.