© Stadt MelleEin Blick zurück: Die Bundesrepublik Deutschland schloss am 30. Oktober 1961 ein Anwerbeabkommen mit der Türkei, das der Wiederaufbau beziehungsweise das Wirtschaftswunder dringend zusätzliche Arbeitskräfte erforderlich machte. Heute, 50 Jahre danach, haben viele der damaligen „Gastarbeiter" mit ihren Familien, zum Teil bereits in der vierten Generation, eine neue Heimat in Deutschland gefunden und bilden eine der größten ethnischen Bevölkerungsgruppen in unserer Gesellschaft.
© Stadt MelleDr. Latif Celik hat die deutsch-türkischen Beziehungen und deren gemeinsame Geschichte mit deutschen und türkischen Experten untersucht und dazu umfangreiches Original-Bildmaterial zusammengestellt. Ergebnisse dieser Recherchen werden jetzt im Rahmen der Ausstellung präsentiert, die noch bis zum 21. Dezember 2012 zu besichtigen ist.
Im Anschluss an die Begrüßung der Gäste durch den Ärztlichen Direktor des Christlichen Klinikums, Dr. med. Klaus-Peter Spies, hielt der türkischstämmige Unternehmer Yilmaz Kilic einen vielbeachteten Eröffnungsvortrag, in dem er auch kritische Töne anschlug. Das Wort „Gastarbeiter“ bezeichnete der Redner als urdeutsche Wortschöpfung. „Denn kein Land der Erde würde Gäste arbeiten lassen.“
© Stadt MelleDas deutsch-türkische Anwerbeabkommen markiere den Beginn der Einwanderung aus der Türkei“, erläuterte Yilmaz Kilic . Deutschland habe seinerzeit Arbeitskräfte in der boomenden Nachkriegswirtschaft benötigt. Das, was so fröhlich begann, habe jahrelang funktioniert. „Integration fand durch Arbeit statt. Noch zu Beginn der 70er Jahre war die Ausländerarbeitslosigkeit geringer als die der Deutschen. Heute ist es mehr als doppelt so hoch wie bei den Deutschen. Was aber ist dann schief gelaufen?“, stellte der Redner als Frage in den Raum. Für ihn stand fest: „Mit dem Anwerbestopp 1973 und dem Nachzug der Familien begann die Geschichte der Versäumnisse. Niemand kümmerte sich um Bildungs- und Aufstiegschancen der Kinder. Türkische Kinder wurden in türkischen Klassen unterrichtet in der Fehlannahme, sie müssten nicht Deutsch, sondern gut Türkisch können, da sie ja irgendwann zurückkehren. Es ist umso erstaunlicher, welche Erfolgsgeschichten es trotz widriger Bedingungen gegeben hat und wie viele Menschen türkischer Herkunft heute fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft sind.“
© Stadt MelleIm Folgenden wies Yilmaz Kilic auf das Jahr 2006 hin, als die Bundeskanzlerin Migranten zum ersten Integrationsgipfel ins Kanzleramt einlud. Mit Bund, Ländern und Kommunen, Sportverbänden, Wirtschaft und Gewerkschaften sei gemeinsam ein nationaler Integrationsplan erarbeitet worden. „50 Jahre zu spät“, wie Yilmaz Kilic befand. Die älter werdende deutsche Gesellschaft brauche unabhängig von der Herkunft der Eltern jedes einzelne Kind. 40 Prozent der Kinder in den Kindergärten besäßen heute eine Zuwanderungsgeschichte. „Sie müssen in zehn bis 15 Jahren unser Land tragen“, wagte der Redner einen Blick in die Zukunft. Nach der Integration Millionen Vertriebener und Flüchtlinge in der jungen Bundesrepublik und der staatlichen Einheit 1990 „müssen wir jetzt eine dritte Deutsche Einheit gestalten, in der die Zuwanderer Träger des eigenen und Motor des gesellschaftlichen Aufstiegs werden.“ Yilmaz Kilic wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „die Türken die deutsche Wirtschaft gestärkt“ haben.
© Stadt Melle„Sie stellen Dutzende Millionäre, Künstler, Politiker und ungefähr 90.000 Unternehmer. Sie werden zuallererst als Türken wahrgenommen – und dann erst als Politiker, Künstler, Sportler und Unternehmer. Wer in der dritten oder vielleicht sogar in der vierten Generation in Deutschland lebt, kann nicht mehr als Migrant bezeichnet werden. Alle wollen dafür verantwortlich gewesen sein, dass Integration in Deutschland, trotz Debatten um Kopftuch und Parallelwelten, trotz Sarrazin, alles in allem ganz gut geklappt hat“, so der Redner. Yilmaz Kilic weiter: „Die Politik klopft sich selbst auf die Schultern. Und man fragt sich: Wofür eigentlich? Das Beste, was sich über die deutsche Einwanderungspolitik der vergangenen 50 Jahre sagen lässt, ist, dass es sie nicht gab. Und sehr viel mehr noch als einige wenige Vorzeige-Migranten, die immer dann genannt werden, wenn erfolgreiche Integration illustriert werden soll, prägen die Hunderttausenden Deutsch-Türken das Land, die Tag für Tag geräuschlos ihre Arbeit verrichten.“
© Stadt MelleDie vielen Einwanderer, die erfolgreich in Deutschland leben, die Familien gegründet haben und im Beruf vorangekommen sind, hätten dieses nicht wegen, sondern trotz der Politik geschafft, erläuterte Yilmaz Kilic. Die Politik beginne nur langsam gegenzusteuern. Dabei seien die Maßnahmen, die ergriffen werden müssten, seit Jahren bekannt, sie seien sogar weitgehend unumstritten: „Die Kinder von Einwandern brauchen eine besondere Förderung, Sprachunterricht schon im Kindergarten, besondere Aufmerksamkeit in der Schule. Klassen, in denen neun von zehn Schülern nur brüchig Deutsch sprechen, dürfte es nicht mehr geben, genauso wenig wie Unternehmen, die Bewerber ablehnen, nur weil diese einen ausländischen Nachnamen besitzen. Die Wirklichkeit ist eine andere, auch deshalb, weil sich Deutschland immer noch schwer tut, zu akzeptieren, dass es längst zum Einwanderungsland geworden ist.“ Trotzdem stand für Yilmaz Kilic außer Frage: „Deutsche und Türken haben in Deutschland eine gemeinsame Zukunft. Das wollen wir auch gemeinsam gestalten. Wir sitzen alle in einem Boot.“
© Stadt MelleWährend der Ausstellungseröffnung stellte Ursula Thöle-Ehlhardt vom Netzwerk Jugendhaus Buer das Buch-Projekt vor. Das deutsch-türkische Anwerbeabkommen von 1961 habe sowohl Deutschland im Allgemeinen als auch das Zusammenleben vor Ort im Besonderen verändert“, sagte die Rednerin und wies in diesem Zusammenhang auf die damit Verbundenen Entwicklungen in Melle und in Buer hin. Nicht nur für die Gastarbeiter, sondern auch für die einheimische Bevölkerung sei das Ganze eine Herausforderung gewesen.
„Die Menschen, die aus der Türkei zu uns gekommen sind, haben sich auf den Weg gemacht in ein vollkommen unbekanntes Abenteuer. Sie hatten keine Vorstellung davon, was genau sie hier erwartet, wie das Leben sich in Deutschland anfühlt, welche Hürden und Probleme zu erwarten sind“, so Ursula Thöle-Ehlhardt. Sie seien mit viel Mut aufgebrochen, in der Hoffnung, durch einige Jahre Arbeit hier sich ein bisschen Wohlstand für ihre Familien in der Heimat verdienen zu können.
„Somit ist es wohl auch schwierig, diesen Weg in ein fremdes Land als ,Migration‘ zu bezeichnen – denn diese Menschen haben ihr Land nicht verlassen, sich nicht von ihrer Heimat verabschiedet – sie sind im wahrsten Sinne des Wortes als ,Gast‘-Arbeiter zu uns gekommen“, führt die Repräsentantin des Netzwerks Jugendhaus Buer aus. Das mache vielleicht deutlich, dass der Prozess des „Ankommens“ dann auch ein langer Prozess sei, da er sich erst im Laufe von vielen Jahren entwickelt habe.
© Stadt Melle„Das Projekt, das wir in Buer ins Leben gerufen haben, heißt somit auch ,Angekommen – Buer und seine Gastarbeiter‘“, verdeutlichte die Rednerin. Initiiert worden sei es von dem Arbeitskreis „Buer integrativ“, der sich bewusst den Zusatz „Kontakt und Verständigung“ gegeben habe. „Unser Ziel ist es, Menschen miteinander in Kontakt zu bringen – und miteinander Aktivitäten und Veranstaltungen auf den Weg zu bringen“, betonte Ursula Thöle-Ehlhardt. Dazu gehörten beispielsweise das Internationale Kinderfest, an dem mittlerweile neben dem türkischen Elternverein und den Moscheen die Schulen, Kindergärten und viele Vereine beteiligt seien. Über diesen Kontakt, das hob die Rednerin hervor, habe sich dann auch die Zusammenarbeit mit Vahdettin Kilic entwickelt, der schon seit vielen Jahren Material zu den Biografien der ersten türkischen Gastarbeiter in Melle zu sammeln, viele Gespräche geführt, Fotos gesammelt und Aufzeichnungen gemacht hatte. Dieses Material ist laut Ursula Thöle-Ehlhardt der Grundstock für die Sammlung von Zeitzeugnissen aus der Zeit der ersten Gastarbeiter. Durch eine Ausstellung dieser ersten Biografien in der Oberschule in Buer „merkten wir, dass Jugendliche durchaus Interesse haben an dieser Geschichte und für eine Mitarbeit zu interessieren sind“.
© Stadt MelleMittlerweile gebe es eine Arbeitsgemeinschaft an der Oberschule Buer, die sich mit dieser Thematik beschäftige, verdeutlichte Ursula Thöle-Ehlhardt. Die Jugendlichen sprächen mit vielen Zeitzeugen verschiedenster Herkunft – mit Kollegen, den Familien der Gastarbeiter, Arbeitgebern, Nachbarn, Lehrern. Sie sammelten Material und entwickelten Ideen für die Erstellung eines Buches. Dafür seien sie auch bereit, viele zusätzliche Termine wahrzunehmen. Auch die im Klinikum ausgestellten Plakate seien von den jungen Menschen in den Grundzügen erarbeitet worden. „Das so entstehende Buch soll nach Fertigstellung des Layouts in Zusammenarbeit mit dem Heimat- und Verschönerungsverein Buer herausgegeben werden – ein ehrgeiziges Projekt – aber spannend, da es viele Menschen zusammen bringt“, kündigte die Rednerin an. Sie persönlich sei sehr erfreut darüber, dass auch der Vorsitzende des Heimatvereins, Dieter Huntebrinker, dazu eine deutliche Meinung hat: „Die 50-jährige Geschichte der Gastarbeiter hier in Melle ist auch 50 Jahre Heimatgeschichte. Deshalb unterstützen wir dieses Projekt sehr gerne.“